Zurück am Ort der Weichenstellung

Karel Ruml kehrte nach der Samtenen Revolution vom 17. November 1989 mehrmals in sein Heimatland zurück. 2001 veröffentlichte der in Nymburk an der Elbe aufgewachsene Jurist das Erinnerungsbuch „Z deníku vlaku svobody („Aus dem Tagebuch des Freiheitszuges“). Das schmale Buch ist ein äußerst aufschlussreiches, authentisches Zeugnis der politischen Hintergründe für die Flucht mit dem Zug über Asch am 11. September 1951. Der Dreiundzwanzigjährige hatte sich Anfang September 1951 buchstäblich über Nacht entschlossen, sich dem Wagnis der Entführung eines Passagierzuges über die bayerische Grenze anzuschließen. Karel Ruml bewahrte diese folgenschwere Entscheidung vor der unmittelbar drohenden Verhaftung. Nachdem er vom Studium an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karlsuniversität Prag ausgeschlossen worden war, hatte er in einer antikommunistischen Widerstandsgruppe mitgewirkt, die Geheimnachrichten aus osteuropäischen Ländern in den Westen schmuggelte.

Nach der Flucht brachte Karel Ruml rund einen Monat in verschiedenen deutschen Flüchtlingslagern zu. Dann erhielt er Asyl in Kanada und schiffte sich in Bremerhaven nach Halifax ein. Kanada empfing den politischen Flüchtling, wie so viele vor und nach ihm, mit offenen Armen, doch zu unerbittlich harten Bedingungen. Den ersten Job trat Karel Ruml bald nach der Einreise im Archiv einer Versicherung in Toronto an. Den Kilometer langen Weg zwischen Unterkunft und Arbeitsplatz legte er anfangs bei jedem Wetter zu Fuß zurück. Für eine Fahrkarte reichte der Lohn nicht. Doch der junge Exilant, der in der Tschechoslowakei wegen seiner bürgerlichen Herkunft nicht studieren durfte, arbeitete sich zielstrebig hoch. Er absolvierte ein Abendstudium der Rechtswissenschaften und legte damit den Grundstein für seine spätere erfolgreiche berufliche Laufbahn als Jurist in den Vereinigten Staaten.

Nach seiner Übersiedlung aus Toronto nach Kalifornien begegnete Karel Ruml dem Ascher Arzt Jaroslav Švec wieder, der zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern mit dem Freiheitszug aus der Tschechoslowakei geflohen war. Karel Ruml, der in Prag zugestiegen war, und die Familie Švec lernten sich erst im Valka-Lager, einem Flüchtlingslager in Nürnberg, näher kennen. Als sie sich in den Vereinigten Staaten wieder begegneten, hatten sie eine Odyssee im Exil und eine beschwerliche Existenzneugründung von Null auf hinter sich. Ruml war inzwischen mit der Kanadierin Jeanine glücklich verheiratet, und dem Ehepaar Ruml war ein Sohn geboren worden.

Den Faden dieser bemerkenswerten Freundschaft griff vor kurzem die Großnichte von Jaroslav Švec, die Ascher Anglistin Vlasta Lišková, erneut auf und spann ihn bis an seinen einstigen Ausgangspunkt Asch weiter. Nachdem Vlasta Lišková Karel Rumls Buch „Aus dem Tagebuch des Freiheitszuges“ gelesen hatte, nahm sie Kontakt zur Familie Ruml auf. Ihr Großonkel Jaroslav Švec war damals bereits verstorben. Vlasta Lišková lud die Rumls ein, bei ihrer nächsten Reise nach Tschechien Asch zu besuchen. Karel Ruml selbst, Jahrgang 1928, wollte die weite Reise nicht mehr auf sich nehmen.

Vlasta Liškovás Einladung fand dennoch Widerhall - bei Rumls Sohn Douglas und dessen Angehörigen. Am 25. Mai 2017 war es schließlich soweit. Die Ascher Anglistin konnte sich über Besuch aus den Vereinigten Staaten freuen. Douglas Ruml kam in Begleitung seiner Frau Martine, seiner erwachsenen Kinder Mallory und Tristan sowie Mallorys Partner Drews, um sich ein Bild vom Schauplatz der Flucht mit dem Personenzug zu machen, die im Leben seines Vaters die Weichen neu gestellt hatte. Die Gäste aus den USA wurden von Vizebürgermeister Pavel Klepáček im Ascher Rathaus empfangen. Er und Vlasta Lišková zeigten ihnen die entscheidenden Orte der Flucht: den Bahnhof Asch, den Grenzpunkt der Bahnstrecke und den Bahnhof Selb-Plößberg. Die Besucher konnten dabei die dramatischen Augenblicke der Flucht lebhaft nachempfinden. Das Begehen der für Karel Ruml wahrhaft bahnbrechenden Orte war für sie nach eigenem Bekunden ein überwältigendes Erlebnis. Am Grenzübertritt hat sie bei ihrem Ausflug in die bewegte Familiengeschichte nichts und niemand gehindert…

„Die Familie von Douglas Ruml vermittelt Karel Ruml alle ihre Eindrücke und Emotionen anhand Hunderter von Fotos. So geht ein alter Wunsch von Karel Ruml immerhin indirekt in Erfüllung. An den Ort zurückzukehren, der für ihn einst über Sein und Nichtsein entschied“, stellte die Initiatorin des Besuches Vlasta Lišková in einem Bericht in den Ašské listy (Ascher Blättern) fest.

Douglas Ruml mit seiner Familie 2017 in Asch. © Pavel Klepáček