Kapitel 3


Ein gestrandeter Passagierzug aus der ČSR. Was nun?

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Warten in Ungewissheit

Für die nach Selb-Plößberg verschleppten Tschechoslowaken hatte die Beschlagnahme des Fluchtzuges durch die US-Besatzungsmacht zur Folge, dass sie die Nacht im Zug verbringen mussten. Die meisten Fahrgäste sowie das Zugpersonal waren am frühen Nachmittag in Eger oder Franzensbad zugestiegen, einige Reisende aber kamen aus Prag und waren schon seit dem Morgen unterwegs. Sie mussten mit Essen und Trinken versorgt werden. Die Verpflegung wurde schließlich aus den Vorräten der US-Truppen in Hof bereitgestellt. Brot wurde vor Ort eingekauft. An die Zuginsassen wurden Brot, Butter, Wurst und Kekse ausgegeben. Mit einem Benzinkocher wurde auf dem Bahnhofsgelände Bohnenkaffee gekocht. Speisen und Getränke wurden erstmals in der Nacht ausgegeben, und am 12. September wurde die Verpflegung fortgesetzt.

Die Lokomotive des Fluchtzuges in Selb-Plößberg. Foto: Otto Graf

Selbst diese scheinbar banalen Vorgänge sind von den Beamten der Grenzpolizeistelle Selb genau dokumentiert worden. Deren dienstliche Aufzeichnungen werfen ein erhellendes Licht auf die propagandistisch verzerrten Darstellungen der Massenmedien in der kommunistischen ČSR, die den Eindruck heraufbeschworen, die verschleppten Menschen im Zug seien schlecht behandelt, ja bedroht worden. Um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, beriefen sich die Medien häufig auf Erlebnisberichte von Rückkehrern aus Selb-Plößberg.

Die beiden amerikanischen Militärjeeps, auf denen je ein Maschinengewehr montiert war, blieben jedoch nur drei Stunden auf dem Bahnhofsgelände von Selb-Plößberg. Dann wurden sie wieder zurückgezogen. Den Zug bewachten bis zum Abend des 12. Septembers Beamte der Grenzpolizei.

Am 12. September wurde die tschechoslowakische Grenzwacht in der Sache des entführten Personenzuges tätig. Der Kommandant des Ascher Grenzwachtbataillons nahm Kontakt mit der Grenzpolizeistelle Selb auf und ersuchte um ein klärendes Gespräch. Am frühen Nachmittag kamen drei Offiziere von den Einheiten der Grenzwacht in Eger und Asch sowie drei Beamte der Grenzpolizeistelle Selb zusammen. „Die Besprechung fand direkt auf der Grenze an einem von den Tschechen bereitgestellten, weiß gedeckten Tisch statt“, hielt Erwin Wagner darüber in seinem dienstlichen Bericht vom 16. September fest. Die tschechoslowakischen Offiziere legten ihren Standpunkt dar: „Die Tschechen gaben dann zu verstehen, dass die Festhaltung der Personen und des Zuges ungesetzlich sei, da die Personen wider ihren Willen über die Grenze gebracht und der Zug vom Lokführer gestohlen worden wäre.“ Wagner konterte mit einigen Vorfällen, bei denen Bewohner grenznaher Orte, die unbeabsichtigt auf tschechoslowakisches Staatsgebiet geraten waren, mit dem Argument des Spionageverdachtes von den tschechoslowakischen Behörden lange festgehalten worden waren. Bezüglich der Rückführung des Zuges und dessen Insassen verwies er auf die Zuständigkeit der amerikanischen Stellen, versicherte jedoch gleichzeitig, dass von deutscher Seite alles getan würde, um die Angelegenheit bald zu einem Abschluss zu bringen.

Dass die Besprechung überhaupt zustande kam, war keine Selbstverständlichkeit. Es unterstreicht die außergewöhnliche Dringlichkeit, die dem Vorfall von der tschechoslowakischen Grenzwacht beigemessen wurde. Ähnliche Vorstöße der Grenzpolizeistelle Selb, Mechanismen für eine direkte Verständigung zu etablieren, waren zuvor stets gescheitert. Wagner stellte in seinem abschließenden Bericht vom 16. September daher zufrieden fest: „Mein Vorschlag, von Zeit zu Zeit solche Besprechungen an der Grenze durchzuführen, damit kleinere Sachen, die im Zuständigkeitsbereich des jeweiligen verantwortlichen Chefs lägen, ohne große Verhandlungen abgeschafft werden könnten, wurde gut geheißen.“ Wie prekär die Beziehungen beim täglichen Dienst direkt an der Grenze waren, wird an der Sorgsamkeit deutlich, mit der auf jede Kleinigkeit geachtet wurde: „Im Laufe der Unterhaltung ließen die Tschechen für jeden Verhandlungsteilnehmer ein Glas Bier servieren, was deutscherseits mit Gleichem vergolten wurde.“

Die auf dem Bahnhof Selb-Plößberg gestrandeten tschechoslowakischen Fahrgäste und Bahnbediensteten blieben am 12. September tagsüber weiterhin im Ungewissen, wann sie nach Hause zurückkehren könnten. Sie fanden sich mit dieser Situation unterschiedlich gut zurecht.

Unter den Fahrgästen waren mehrere Schüler, die täglich mit dem Zug zum Egerer Gymnasium pendelten, da es in Asch kein Gymnasium mehr gab. Bei diesen Schülern im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren überwogen die Neugier und das Vergnügen daran, ein ganz besonders seltenes Abenteuer zu erleben. Nicht jeder konnte einfach so mal nach Bayern rüber schauen. Zu ihrer Verblüffung war die Realität jenseits der geschlossenen Westgrenze ganz anders, als sie es aufgrund der Indoktrination im Schulunterricht erwartet hatten. „Angst hatten wir jedenfalls keine, wir fassten das eher als Ausflug auf“, beschrieb Květoslava Kozlová die Stimmung unter ihren Schulkameraden, als sie Jahrzehnte später zurückblickte. Eine andere Mitreisende, die junge Mutter Miluše Dusíková, beobachtete die Kurgäste aus Franzensbad in den Waggons: „Die Kurpatientinnen begannen zu jammern und brachen in Tränen aus, andere waren guter Dinge.“ Viele Kurgäste fuhren damals gerne zu Einkäufen oder Ausflügen in die Textilstadt Asch. Miluše Dusíková hatte persönlich nur den einen Wunsch: „Was ich selbst bei dem langen Warten empfand? Vielleicht enttäuscht sie das, aber ich dachte hauptsächlich an meinen kleinen Sohn, den ich noch stillte. Ich wollte nichts als nach Hause zurück.“

Solche schlicht menschlichen Empfindungen spiegelten sich in den zeitgenössischen tschechoslowakischen Massenmedien nicht wider. Von ihnen erfuhr die Öffentlichkeit erst nach dem Ende der kommunistischen Ära. Die obigen Zitate sind einem Buch mit Reportagen aus der tschechoslowakischen Zeitgeschichte aus der Feder des Publizisten Václav Jiřík entnommen. Das in Eger veröffentlichte Buch trägt den Titel "Vlak svobody" („Der Freiheitszug“). Es behandelt neben dem Titel gebenden Kapitel jedoch noch zahlreiche andere historische Ereignisse. Jiřík befragte für seine Publikation einige Fahrgäste des Fluchtzuges vom 11. September 1951 erneut als Zeitzeugen. In einigen der Interviews klangen dabei Erinnerungen an die Begegnung mit Menschen in Selb-Plößberg an.

Der Weg ins Exil nahm unaufhaltsam seinen Lauf. Besonders schwer ums Herz war jenen politischen Flüchtlingen, die erst kurz zuvor von der Fluchtmöglichkeit mit dem Zug über Asch am 11. September erfahren hatten und überstürzt aufbrachen. Der dreiundzwanzigjährige Karel Ruml aus Nymburk an der Elbe vertraute nur seiner sterbenskranken Mutter und seiner siebzehn Jahre jungen Verlobten Ladislava Šilhartová an, dass er in den Westen zu flüchten beabsichtigte. Von seinem Vater, seiner Schwester Eva und seinen vielen Freunden verabschiedete er sich nicht, um kein Risiko eines Verrats einzugehen. Ruml führte nur einen Handkoffer mit, als er seine Heimat ohne die Perspektive einer Rückkehr verließ. In Selb-Plößberg wurde es für ihn plötzlich zur bedrückenden Gewissheit, dass er alles, was sein bisheriges Leben ausgemacht hatte, zurückließ – vielleicht für immer. Die Reflexionen Karel Rumls in Selb-Plößberg sind in dem Erinnerungsbuch „Aus dem Tagebuch des Freiheitszuges“ nachzulesen.

Die gegen ihren Willen nach Deutschland eingereisten Tschechoslowaken konnten rascher in ihre Heimat zurückkehren, als noch am 12. September angenommen worden war. Sie wurden bereits am 13. September in den Abendstunden an der Grenze bei Wildenau an die tschechoslowakischen Behörden übergeben.

Die tschechoslowakische Lokomotive der Baureihe 365 mit dem leuchtend roten Stern auf der Stirnseite, den drei Sitzwagen und dem Gepäckwagen blieb noch bis zum 10. Oktober 1951 auf einem Abstellgleis des Bahnhofs Selb-Plößberg stehen.